Prof. Dr. Annette Treibel, Karlsruhe

 

 Integration ins Einwanderungsland Deutschland - Ein Projekt für alle

 

Annette Treibel studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Sozialwissenschaften. Seit 1996 ist sie Professorin für Soziologie am Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Migration und Geschlechterforschung gehören zu ihren Arbeitsschwerpunkten.

Annette Treibel analysiert in ihrem Vortrag Alltagssituationen, Mediendebatten und Forschungsergebnisse zu Migration und Integration und stellt fest: Vieles ist keineswegs so klar, wie es zu sein scheint. Integration fand zwar bereits ganz unauffällig statt. Doch die Vorstellung, in einem Einwanderungsland zu leben, beunruhigt Teile der Bevölkerung sehr.

Die Referentin plädiert für eine selbstbewusste Integration, die auf Kooperation setzt und dabei weder auf Sympathie noch auf Auseinandersetzung verzichtet. Sie fordert dazu auf, Deutschland ohne Wenn und Aber als Einwanderungsland zu begreifen, und anzuerkennen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit ganz verschiedenen Migrationsbiografien hier heimisch sind. Denn: Deutsch kann man nicht nur sein, sondern auch werden. Insofern haben alle einen Integrationsbedarf – nicht nur die „neuen Deutschen“, sondern auch die „alten Deutschen“. Bei ihrem Blick auf alltägliche Begegnungen gibt Annette Treibel schließlich Anregungen für integrative Kommunikationsmöglichkeiten. Auch Humor, so ihr Anliegen, sollte dabei nicht zu kurz kommen.

 

Prof. Dr. Annette Treibel, Karlsruhe

Gliederung des Vortrags:

1. Vorbemerkung
2. Deutschland als Einwanderungsland
3. Integration – zwei Perspektiven
4. Deutsch kann man auch werden
5. Zusammenleben im Einwanderungsland: Konflikte und Kooperationen
6. Schluss-Statement

1 Vorbemerkung

Als Wissenschaftler kommt man meist auch aus persönlichen Motiven zu seinem Forschungsschwerpunkt, ohne, dass darüber viel gesprochen wird.

Frau Treibel hat eine eigene Migrationsbiografie; sie war Binnenmigrantin: Von Baden nach Württemberg und von dort nach Nordrhein-Westfalen, ins Ruhrgebiet. Dabei erfuhr sie mehrfach Ausgrenzungen und macht Fremdheitserfahrungen, die sie auf ihren Forschungsschwerpunkt “Migrationsforschung“ brachten. Sie veröffentlichte 2015 das Buch „Integriert Euch! – ein Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland“, in allgemein-verständlichem Deutsch, denn es ist ein Buch an Nicht-Fachwissenschaftler. Es ist eine soziologische Antwort auf das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“.

2 Deutschland als Einwanderungsland

USA und Kanada sind klassische Einwanderungsländer. Die USA sind dabei, sich als Einwanderungsland zu verabschieden. Das belegt, dass der Status „Einwanderungsland“ nichts Statisches, sondern prozessbezogen ist. So ist es auch in Deutschland. Trotz Protesten gegen ein „Einwanderungsland Deutschland“ sind wir de facto eines - auch wenn es bisher noch kein Einwanderungsgesetz gibt - und zwar ein Einwanderungsland neuen Typs.

Wie in jeder Wissenschaft sind auch in der Soziologie Fachbegriffe unverzichtbar:

„Ausländische Wohnbevölkerung“ in Deutschland sind Menschen ohne deutschen Pass. Das waren in 2014 10 % der Bevölkerung = 8,2 Mio. Menschen, die sich unterschiedlich auf die Bundesländer verteilten. So betrug ihr Anteil z.B. in Baden-Württemberg, Berlin, Bremen und Hamburg zwischen 12 und 14 %; in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz zwischen 7 und 10 %.

Menschen mit „Migrationshintergrund“ waren in 2015 20,3 % der Wohnbevölkerung = 17,1 Mio. Einwohner. In Mainz waren es 30 %, in Stuttgart 40 %, in Rostock lediglich 7 %. Bei Kindern und Jugendlichen waren es 27 bis 30 %. Ostdeutschland hat keine Einwanderungserfahrung wie der Westen.

Zu unterscheiden sind:
I. Zugewanderte Ausländer,
II. Ausländer der 2. oder 3. Gebneration,
III. Spätaussiedler und eingebürgerte Zuwanderer,
IV. in Deutschland beborene Kinder mit deutschem Pass und mindestens einem Elternteil der Gruppe I, II oder III

7,8 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund sind Ausländer;
9,3 Mio. mit Migrationshintergrund sind Deutsche (Kinder bzw. Enkel von Eingewanderten).

Zum Migrationshintergrund werden mehrere Fragen debattiert:
• Wie wird die Eigengruppe definiert?
• Was sind Selbstbilder im Alltagsleben?
• Wann endet der Migrationshintergrund?
• Wären begriffliche Alternativen besser („Einwanderer und Nachkommen“)?

3 Integration – zwei Perspektiven

3.1 Alltagsperspektive: Sarrazin spricht von „Integrationsverweigerern“, ein negativ besetzter Begriff.
3.2 Wissenschaftliche Perspektive: „Sozialintegration“ bedeutet Eingliederung (z.B. durch Beruf oder Heirat); „Systemintegration“ beschreibt den Zusammenhalt des Gesamtgebildes wie aus der Vogelperspektive.

Grundlagen eines weiteren Integrationsprozesses:
• Wechselseitigkeit: Beide Seiten gehören zur Integration.
• Prozess-Perspektive: Wie lange dauert die Integration?
• Soziologische Normalität von sog. Binnenintegration (Frau Treibel ist z. B. integriert ins Gebilde der Akademiker, nicht in das der Schützenvereine) bzw. Entstehung von Parallelgesellschaften (auch Reiche kapseln sich ab).

Anpassungsschleusen:
Hier ist Geduld erforderlich. Manche Viertel der deutschen Einwanderer in den USA, zum Beispiel in Chicago als „Little Germany“ bezeichnet.

Integrationsparadox:
Wenn Integration stattfindet, ist es häufig auch nicht recht: Einwanderer sollen sich z. B. anpassen, aber keine Deutschen werden.

Das Buch „Integriert Euch!“ ist ein Plädoyer, Integration als ein Projekt für alle Beteiligte zu verstehen; für „Alte Deutsche“, „Neue Deutsche“ und auch „Neuere Deutsche“.

Auch die „Alten Deutschen“ stehen vor der Herausforderung, sich in das Einwanderungsland Deutschland zu integrieren. Dazu gehört das Bewusstsein, dass man auch deutsch WERDEN kann.

Eine Herausforderung für alle ist das zukünftige Verhältnis zwischen Alten, Neuen und Neueren (Flüchtlinge) Deutschen.

4. Deutsch kann man auch werden

Fußballbereich:
• Alte Deutsche sind z. B. Thomas Müller; Birgit Prinz.
• Neue Deutsche: Mesut Özil, Dzsenifer Marozsán.

Oft schließen Menschen dieser Gruppen sich organisatorisch zusammen, z. B. Neue Deutsche Medienmacher: s. www.vielfaltfinder.de

Weitere NDOs (Neue Deutsche Organisationen):
• Initiative schwarze Menschen in Deutschland
• IAF: Verband binationaler Familien und Partnerschaften e. V., ursprünglich Initiative der mit Ausländern verheirateten deutschen Frauen.

5. Zusammenleben im Einwanderungsland: Konflikte und Kooperationen jenseits der medialen Diskurse

Konflikt gibt es in privaten und beruflichen Beziehungen.

Der Sinn von Konflikten in soziologischer Perspektive ist ihre friedliche Austragung, denn sie stiften gesellschaftlichen Zusammenhalt. Konflikten liegt oft ein Streit um Hierarchien und Definitionsmacht zugrunde, so z.B. in der Herkunftsfrage (Migranten möglichst nicht mit der Frage „Woher kommen Sie?“ überfahren), aber auch bei Moscheebauten.

Beispiele für Kooperationen:
• Umgang mit Integrationsverweigerern ohne Migrationshintergrund: hier ist Gesprächsbedarf.
• Thematisierung scheinbar langweiliger Integrationserfolge, auch in den Medien erforderlich.
• Erfahrungen in der Integrationsarbeit kommunizieren.
• Anlass zu Selbstbewusstsein als Einwanderungsland: In den letzten Jahren gab es erfolgreiche Integrationsprozesse.

6 Schluss-Statement

 

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Deutschland steht nicht bei Null, sondern hat vielfältige Erfahrungen mit Migration und Integration. Dies ist als Ermunterung zu Debatten und Positionierungen zu verstehen. Selbstverständlich gibt es sowohl positive als auch negative Erfahrungen.