Dr. Herbert Lindenlauf, Trier
Zwischen Gottesstaat und Glaubensfreiheit.
Wie (in-)tolerant sind monotheistische Religionen?
Herbert Lindenlauf studierte ev. Theologie, war Assistent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und danach über 30 Jahre als Pfarrer an Berufsschulen und in der Erwachsenenbildung tätig. Der Dialog der Konfessionen und Religionen war ein Schwerpunkt seiner beruflichen Praxis. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stehen Fragen der Sozialethik, Religionspädagogik und Religionskritik.
Selbstmordattentate und die Absicht der Terrormiliz „Islamischer Staat“, mit Gewalt einen Gottesstaat zu errichten, weisen hin auf den problematischen Zusammenhang von religiösem Hintergrund und politischem Handeln.
Aus atheistischer Sicht erscheinen religiös motivierte Menschen als politisch unberechenbar, wenn nicht sogar gefährlich. Vor allem die monotheistischen Religionen – neben dem Islam also auch Juden- und Christentum – werden als intolerant verdächtigt, weil sich ihr Glaube an den einzigen Gott mit einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft nicht vereinbaren lasse. Eine Prüfung dieser Vorwürfe zeigt: Während Judentum und Christentum in ihrer Glaubensüberlieferung Elemente enthalten, die der Tendenz zum Gottesstaat Einhalt gebieten, hat der Islam solche Sicherungen noch nicht mit derselben Konsequenz ausgebildet und ist gegen die „theokratische Versuchung“ nur unzureichend geschützt. Der Vortrag geht der Frage nach, wie dieser Befund zu bewerten ist und was daraus für das christlich-islamische Verhältnis folgt.
Zum theokratischen Potential monotheistischer Religionen, ein Beitrag zum christlich-islamischen Gespräch
von Dr. Herbert Lindenlauf
Anmerkung der Redaktion: Aus technischen Gründen mussten die vielen Fußnoten des Originals entweder als Anmerkungen im Textverlauf übernommen, oder gelöscht werden.
I. Religion unter Verdacht
Nicht erst seit den Anschlägen des 11. September 2001 – danach allerdings mit umso größerer Dringlichkeit – ist die Frage nach den religiösen Motiven politischen Handelns auf der Tagesordnung des öffentlichen Diskurses präsent. Denn die Taten und die sie rechtfertigenden Erklärungen islamischer, in den Medien zumeist als „Islamisten“ oder „Dschihadisten“ bezeichneter Terroristen erzeugen nicht nur ein Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung, sondern suggerieren zugleich einen Zusammenhang mit der Religionszugehörigkeit der Täter, der die Öffentlichkeit nicht weniger erschreckt: religiöse Überzeugung als Ursache und Legitimationsgrund für Menschenverachtung und vielfachen, willkürlichen Mord.
Es verwundert nicht, dass Vertreter der Religionsgemeinschaften versuchen, das Phänomen auf eine irregeleitete, radikale Minderheit innerhalb des Islam einzugrenzen und damit erklärungswirksam zu isolieren: Man fürchtet, für den die Nachrichten beherrschenden „islamistischen“ Terror gleichsam in Sippenhaft genommen zu werden, und bemüht sich vorsorglich um Schadensbegrenzung. Die Sorge ist nicht unbegründet: Ist nämlich das Motiv terroristischer Gewalt erst einmal in dem religiösen Hintergrund ihrer Urheber lokalisiert, so liegt die Gleichsetzung von militantem Islamismus, religiösem Fundamentalismus im allgemeinen und einer den Religionen insgesamt unterstellten Intoleranz zu nah, um von den Propagandisten einer aufgeklärten Religionslosigkeit nicht tatsächlich zur Interpretation gegenwärtiger Konflikte herangezogen zu werden. Religionen erscheinen als Wurzel von Fanatismus und als Auslöser zerstörerischer Gewalt, religiös motivierte Menschen als politisch unberechenbar und potentiell gefährlich.
Die Konsequenzen, die aus solchen Verdächtigungen gezogen werden, reichen von der laizistischen Forderung nach Verbannung der Religion aus der Öffentlichkeit bis zur grundsätzlichen Ächtung des Religiösen in humanitärer Absicht. Im ersten Fall wird Religion auf die Privatsphäre reduziert, um ihren gesellschaftlichen Einfluss zu minimieren; im letzteren verschärft man den antiklerikalen Affekt der Aufklärung – „écrasez l’infâme!“ – zum antireligiösen Imperativ und macht die Religion als eine notorisch fortschrittsfeindliche und das friedliche Zusammenleben von Menschen hindernde Macht namhaft, die es um der Menschenrechte und einer demokratischen Entwicklung der Gesellschaft willen zu bekämpfen gilt.
Doch ist Hass, wie Angst, der Wahrheitsfindung eher hinderlich, und monokausale Erklärungen geben sich in den meisten Fällen als Simplifizierung zu erkennen. Ist eine religionsfreie Gesellschaft wirklich erstrebenswert? Wäre sie überhaupt möglich? Versteht man, mit Erich Fromm, unter Religion „jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet“(Erich Fromm), dann „ist in der Tat keine Gesellschaft der Vergangenheit, der Gegenwart und selbst der Zukunft vorstellbar, die keine ‚Religion‘ hat“(Erich Fromm). Muss aber Religion in diesem Sinn als eine soziokulturelle Konstitutive vorausgesetzt werden, so tragen pauschale Schuldzuweisungen an ihre Adresse ebenso wenig zur Erhellung ihrer Funktion bei wie Beschwichtigungsversuche, sondern nur eine differenzierte Sicht, welche das humane und politische Potential von Religionen auslotet.
Die Frage kann daher – wieder mit den Worten Fromms – nicht lauten: „Religion oder nicht?, sondern vielmehr: Welche Art von Religion? Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das menschliche Wachstum?“ Doch führt diese Frage nach den sozialen Folgen von Religion nur dann zu verbindlichen Kriterien, wenn sie auf die vorgeordnete nach ihren Inhalten bezogen wird, wodurch sich die Folgen einer Religion als konsequente Praxis ihrer Glaubensinhalte – oder eben als deren Verrat und Desavouierung erweisen lassen.
II. Theonomie contra Theokratie
Der Verdacht, ein fanatisierendes Wirkungspotential zu entfalten, trifft vor allem die monotheistischen Religionen, unter den Weltreligionen also Judentum, Christentum und Islam. Sie gelten Kritikern aufgrund ihres Gottesbildes, das außer dem einen wahren nur falsche Götter kennt, als strukturell intolerant (Jan Assmann) und potentiell „gewaltaffin“, einschließlich der Legitimierung sog. „heiliger Kriege“ und einer Option für den „Gottesstaat“, die Theokratie.
Der besondere Charakter dieser nahöstlichen Religionsfamilie im Gegenüber etwa zu den fernöstlichen Weltreligionen Hinduismus und Buddhismus wird gelegentlich durch ihre Kennzeichnung als „prophetische“ Religionen (im Unterschied zu den süd- und ostasiatischen „mystischen“) zu erfassen versucht (Küng) und ihr Proprium als „Konfrontation“ beschrieben (Küng): Welt und Mensch sind weder in Gott (so dass sie als Teile des Göttlichen selbst betrachtet werden könnten) noch aus Gott (im Sinne eines emanativen Prozesses), sondern stehen ihm als durch sein souveränes Handeln ins Leben gerufene Schöpfung gegenüber. Daher ist auch die Beziehung des Menschen zu Gott keine unmittelbare; sie wird vermittelt durch die Bekundung des Willens Gottes im göttlichen Offenbarungswort, mit welchem besondere Gesandte Gottes die Menschheit „konfrontieren“. Da aber die „prophetischen“ Weltreligionen aufgrund ihres monotheistischen Grundaxioms den seinen Willen bekundenden Gott als einzig, allmächtig und allumfassend verstehen, ist auch der Geltungsanspruch seines Wortes universal und die Gemeinschaft der Glaubenden dementsprechend aufgerufen, ihm in allen Bereichen des Lebens Gehorsam zu leisten und Anerkennung zu verschaffen.
Man hat dieses Merkmal der Offenbarungsreligionen, den Menschen unter den allumfassenden Anspruch Gottes zu stellen, als „Theonomie“ bezeichnet (Johannes SCHWARTLÄNDER / Heiner BIELEFELDT ). Theonomie steht im Gegensatz zur Theokratie. Diese liegt vor, „wo Menschen in ihrer politischen Herrschaft beanspruchen, unmittelbar den Willen Gottes zu vertreten (…) und wo sie ihre Machtausübung dadurch legitimieren“ (Johannes SCHWARTLÄNDER / Heiner BIELEFELDT). Theonomie dagegen vermag zwischen der Normativität des göttlichen Willens für den Gehorsam des Glaubens und den weltlich-politischen Strukturen, in denen er sich bewähren soll, dergestalt zu unterscheiden, dass sich der Anspruch der Glaubenden auf die Gestaltung der Gesellschaft nur mit dem Glauben adäquaten Mitteln – d.h. ohne Anwendung von Gewalt (Augsburger Bekenntnis ) – artikuliert und die Differenz zwischen der Allherrschaft des einen Gottes und ihrer lediglich partiellen und fragmentarischen Abbildung im Leben der Gesellschaft erträgt.
In der Praxis ist Theonomie allerdings stets in Gefahr, in Theokratie umzuschlagen. Denn von dem monotheistischen Grundaxiom geht ein verführerischer Impuls aus, die Strukturen des menschlichen Zusammenlebens zur Kongruenz mit der Einzigkeit und Universalität Gottes zu bringen, eine dem Inhalt des Glaubens konforme Gestalt der Gesellschaft zu erzwingen und sich dazu, wenn es die politische Konstellation zulässt, der Mittel staatlicher Gewalt zu bedienen. Dass dies immer wieder geschieht – gegenwärtig besonders in den sich als „Gottesstaaten“ gerierenden islamischen Ländern, in der Vergangenheit aber auch in christlichen Gemeinwesen mit theokratischer Struktur –, weist auf ein in den monotheistischen Offenbarungsreligionen angelegtes Potential hin, das sich als solches nicht bestreiten und mit der eilfertigen Versicherung, es handele sich in den genannten und vergleichbaren Fällen um eine missbräuchliche Funktionalisierung von Religion, nicht wirksam entschärfen lässt.
Vielmehr ist gemäß dem oben in Anlehnung an Erich Fromm formulierten Kriterium der sozialen Wirkung der Inhalte religiösen Glaubens zu fragen, ob und inwieweit der Offenbarungsgehalt der Offenbarungsreligionen selbst spezifische, d.h. ihrem Verständnis Gottes und der Welt theologisch notwendig innewohnende Sicherungen bereitstellt, welche die Verkehrung von Theonomie in Theokratie zumindest in der Theorie zu verhindern vermögen, indem sie diese nicht nur als praktischen Missbrauch, sondern als Apostasie, als Verrat des Glaubens selbst enthüllen.
In dieser Hinsicht bieten aber die monotheistischen Weltreligionen ein divergentes Bild: In Judentum und Christentum impliziert die Entfaltung des Seins und Handelns Gottes wesentliche Elemente, die einer theokratischen Konversion des theonomen Anspruchs Einhalt gebieten – sofern man denn bereit ist, sie zu beachten. Im Judentum sind dies der Glaube an die Erwählung Israels zum Volk Gottes und die Erwartung des Messias, im Christentum die Trinitätslehre und die neutestamentliche Eschatologie. Dagegen hat der Islam in seiner Theologie solche Sicherungen nicht mit derselben Stringenz ausgebildet und ist darum vor dem Missbrauch durch eine politische Theokratie nur unzureichend geschützt. Diese These soll im Folgenden näher begründet werden, um abschließend nach möglichen Konsequenzen für den christlich-islamischen Dialog zu fragen.
III. Theonomie und Theokratie in Juden- und Christentum
Die Erwählung Israels durch Gott ist ein zentrales Motiv des Alten Testaments (S. dazu Walther ZIMMERLI, Grundriss der alttestamentlichen Theologie). Es verbindet sich mit dem Bundesgedanken und gehört seither zum Grundbestand jüdischen Glaubens.
Auf den ersten Blick scheint sich in der Überzeugung, dass Gott unter allen Völkern der Erde exklusiv das kleine Israel auserwählt und mit ihm einen Bund geschlossen hat, ein elitärer, um nicht zu sagen: maßloser Anspruch zu artikulieren. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Erwählung bedeutet zu allererst Verpflichtung und Inanspruchnahme. Denn die Erwählung Israels manifestiert sich in der Gabe der
tora, der Offenbarung des göttlichen Willens in Gestalt seines Gebots; sie bürdet den Erwählten eine Verantwortung auf, die andere Völker nicht zu tragen haben, und behaftet sie bei deren Erfüllung, wie es bereits bei Amos, dem ältesten der Schriftpropheten, zum Ausdruck kommt: „Nur euch habe ich erwählt aus allen Stämmen der Erde; darum ziehe ich euch zur Rechenschaft für alle eure Vergehen.“ (Am 3,2, Einheitsübersetzung)
Das Bemühen um die Erfüllung der Gebote qualifiziert jüdischen Lebensvollzug als theonome Existenz. „Seinem eigentlichen Wesen nach soll das Leben in seiner Ganzheit ein Zeugnis vor Gott sein, eine alles umgreifende Mitzwah, durch die Gott offenbar gemacht und das Volk Israel erhalten wird.“ (Leo TREPP, Das Judentum) Diese Aufgabe nimmt Israel exemplarisch und gleichsam stellvertretend für die gesamte Menschheit wahr; eine Ausweitung der mizwa über das „Haus Israel“ hinaus wird durch die Exklusivität seiner Erwählung ausgeschlossen, das Judentum kennt keine missionarische Ausbreitung.
Gewiss ist den Glaubenszeugen des Alten Testaments, namentlich den Propheten, daran gelegen, dass die theonome Existenz auch das soziale Leben durchdringt; doch dieses Interesse führt nicht zur Forderung politischer Theokratie, sondern zu einer theonom begründeten Kritik der politischen Institutionen. Theokratische Phantasien konzentrieren sich in biblischer Zeit auf literarische Fiktionen, die ihr theokratisches Ideal in eine ferne Vergangenheit projizieren, und verlagern sich nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit in den Horizont eschatologischer Hoffnung. Diese aber ist, als Erwartung eines zukünftigen, unverfügbaren Handelns Gottes, menschlicher Aktivität und politischer Programmatik prinzipiell entzogen (s. Otto PLÖGER, Theokratie und Eschatologie).
Das gilt auch für die zentrale Zukunftshoffnung des Judentums, das Kommen des Messias. Im Medium der Messiaserwartung werden durchaus massive politische Motive wirksam: die Erneuerung des Königtums Davids, die Rehabilitierung Israels, die Durchsetzung des göttlichen Willens in einer vollkommenen Gesellschaftsordnung und ein universales Reich des Friedens. Doch der streng theozentrische und eschatologische Charakter der Messiaserwartung konterkariert jeden Versuch ihrer politischen Funktionalisierung als eigenmächtigen Vorgriff auf das exklusive Handeln Gottes. Teile des orthodoxen Judentums lehnten aus diesem Grund den Zionismus und die Gründung des Staates Israel ab.
Für das Christentum verändern sich – zumal nach seiner Lösung aus dem jüdischen Synagogenverband – die theologischen Argumentationsbedingungen nachhaltig. Die Erwählung Israels, der „alte Bund“, wird abgelöst durch die Überzeugung der christlichen Gemeinde, das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden zu repräsentieren, das potentiell und prospektiv die gesamte Menschheit umspannt; an die Stelle der Erwartung des Messias tritt die Gewissheit seiner Gegenwart in Jesus von Nazareth. Mit der Universalisierung der restriktiven, stellvertretenden Erwählung Israels und der Vergegenwärtigung der eschatologischen Hoffnung werden aber auch die Sicherungen, welche die Theonomie im Judentum gegen ihre Transformation in Theokratie schützten, unwirksam.
Die Christen bekennen ihren Herrn Jesus Christus als den Weltherrscher, den kyrios (Philipper 2,11) und wissen sich berufen, ihn „bis an die Grenzen der Erde“ zu bezeugen (Apostelgeschichte 1,8), indem sie „alle Völker“ durch die Taufe in seinen Herrschaftsbereich eingliedern (Matthäus 28,18-20). In den ersten Jahrhunderten bezieht das christliche Bekenntnis seine Überzeugungskraft gerade aus dem Gegensatz zwischen dem Universalismus seiner Botschaft und der Untergrundexistenz der verfolgten Gemeinden im römischen Imperium. Als sich aber mit der „konstantinschen Wende“ die politischen Verhältnisse zugunsten des Christentums wandeln, wird auch die theokratische Versuchung virulent, und die Kirche ist ihr immer wieder erlegen: in der östlichen, byzantinischen Variante des Caesaropapismus, in der westlichen der päpstlichen Hierokratie, in der kriegerischen Heidenmission, in Kreuzzügen und Ketzerverfolgungen, in den totalitären politischen Ideen protestantischer Extremisten wie Thomas Müntzer oder der Wiedertäufer in Münster und anderen Gestalten christlich legitimierter Gewalt (Essay von Philippe BUC, Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, Darmstadt 2015).
Es ist allerdings offensichtlich, dass dies nicht in Übereinstimmung mit dem christlichen Bekenntnis geschah, sondern nur mit einer von Machtinteressen geleiteten Suspendierung wesentlicher Glaubensinhalte erklärt werden kann, vor allem des in der Alten Kirche durch die Trinitätslehre ausgelegten biblischen Gottesbegriffs und der neutestamentlichen Eschatologie. Diese hätten eigentlich dem metaphysischen Monotheismus und seiner politischen Funktionalisierung von vornherein den Boden entziehen müssen. Sie wurden jedoch von der Theologie nicht konsequent genug ausgebildet und in der Praxis der Kirche nicht streng genug befolgt.
Das trinitarische Dogma klärt – gewiss mit zeitbedingten philosophischen Mitteln, doch sachlich gleichwohl verbindlich – die Konsequenzen, die aus der Gegenwart Gottes in Jesus von Nazareth zu ziehen sind. Indem die christliche Theologie (1.) von dem geschichtlich differenten Handeln Gottes im „Sohn“ und im „Geist“ auf ein entsprechend differenziertes Sein des einen Gottes in drei „Personen“ zurückschließt, entzieht sie der spekulativen monistischen Ideologie des politischen Monotheismus (ein Gott – ein Herrscher – ein Glaube) die Argumentationsbasis. Indem sie (2.) die Präsenz Gottes in seinem Sohn als Menschwerdung des göttlichen logos zur Sprache bringt, durchbricht sie das in der Philosophie und Religion der Antike in Geltung stehende Apathieaxiom, wonach die unveränderliche Gottheit von menschlichem Geschick nicht tangiert wird, und löst sich damit aus den Denkzwängen eines – primär an dem überweltlichen legislator orientierten – Bildes von Gott, dessen Wille erst durch seine menschliche Verwirklichung zu geschichtlicher Wirkung kommt. Indem sie (3.) das soteriologische Ziel der Inkarnation hervorhebt, weist sie menschlichem Handeln den lediglich responsorischen Stellenwert einer Bezeugung der extra nos und pro nobis geschehenen Aktion Gottes zu. Und indem (4.) die an das trinitarische Dogma anschließende christologische Lehrbildung die Inkarnation des göttlichen logos gemäß Philipper 2,7f als kenosis interpretiert, definiert sie die Allmacht und Herrschaft Gottes in einer Weise, die diese als Projektionsfläche menschlicher Machtphantasien unbrauchbar macht: Der leidende „gekreuzigte Gott“ eignet sich per se nicht als Legitimationsinstanz für theokratische Ansprüche, und wo diese dennoch erhoben werden, sind sie mit religionskritischen Argumenten zurückzuweisen.
Allerdings ist die Verborgenheit der Herrschaft Gottes unter der Gestalt ihres Gegenteils für die christliche Theologie nicht das letzte Wort, wie ja auch die Erniedrigung Jesu Christi in Philipper 2,7f auf seine Erhöhung (2,9-11) zielt. Deren Offenbarwerden erwartet die Alte Kirche jedoch, geleitet durch die neutestamentliche Eschatologie, erst mit der Vollendung der Geschichte im Reich Gottes. In der Zwischenzeit stehen Glauben und Leben der Christen unter dem „eschatologischen Vorbehalt“, wie er vor allem in den paulinischen Briefen in Erscheinung tritt und durch das Zugleich von „schon jetzt“ und „noch nicht“ gekennzeichnet ist.
Diese Dialektik betrifft auch das politische Handeln: Sie begründet auf der einen Seite den „neuen Gehorsam“ der Christen, ihre theonome Existenz, unterbindet aber zugleich den Versuch, deren Kriterien zum Gestaltungsprinzip der Gesellschaft und der staatlichen Ordnung zu erheben. Vielmehr nötigt das christliche Bekenntnis in der Zeit zwischen der bereits geschehenen Versöhnung und der noch ausstehenden Erlösung der Welt zur theologischen Unterscheidung von „geistlichem“ und „weltlichem“ Regiment Gottes, von christlicher Gemeinde und politischem Gemeinwesen und zu entsprechend differenzierten Handlungsnormen in beiden Bereichen. Die dazu in der Geschichte der Kirche entwickelten Modelle und ihre Resultate sind – wie im Fall der „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers und der Reformation – durchaus strittig; kein Zweifel kann jedoch an der Notwendigkeit der Differenzierung als solcher bestehen.
1934 zog die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in der Theologischen Erklärung von Barmen daraus die Konsequenz:
„Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“
Durch diese doppelte Abgrenzung, die sich im sog. Kirchenkampf des Dritten Reiches gegen die Gleichschaltung der Kirche durch den Staat richtete, wird umgekehrt auch jede Begründung einer Theokratie auf der Basis des christlichen Bekenntnisses als häretisch zurückgewiesen.
IV. Theonomie und Theokratie im Islam
Mit Judentum und Christentum teilt der Islam das monotheistische Grundaxiom und den universalen Anspruch seiner Offenbarung, damit aber auch die Aufgabe, eine Pervertierung der Theonomie menschlicher Existenz zur theokratischen Gleichschaltung der Gesellschaft zu verhindern. Wie stellt sich die muslimische Theologie dieser Herausforderung?
Prüft man die Grundlagenurkunde des Islam, den Koran, so zeigt sich, dass die theologischen Sicherungen, welche im Juden- und Christentum die Gefahr der Theokratie abwehren, im islamischen Kontext nicht zur Wirkung kommen: Weder kennt der Islam ei
e stellvertretende Erwählung oder Berufung zur exemplarischen Erfüllung der Gebote Gottes, wie das Judentum, noch trägt seine Ethik dem „eschatologischen Vorbehalt“ der biblischen Religionen Rechnung. Die trinitarische Differenzierung des christlichen Gottesbegriffs lehnt der Islam als Preisgabe des Monotheismus ausdrücklich ab. Zwar ermahnt der Koran die Muslime, in Sachen der Religion „keinen Zwang“ auszuüben (Sure 2,256), doch diese Mahnung bezieht sich auf die Mittel zur Durchsetzung religiöser Ansprüche an die Gesellschaft, nicht unbedingt auf die Durchsetzung des Anspruchs als solchen.
Bei genauerer Untersuchung ergibt sich, dass der Islam auch keine alternativen, aus dem spezifischen Inhalt seines Bekenntnisses mit Notwendigkeit folgenden Argumente gegen eine theokratische Praxis des Glaubens entwickelt hat und diese somit zumindest als Option zuzulassen scheint. Die Ambivalenz gegenüber dem eigenen theokratischen Potential äußert sich in historischen wie in theologischen Zusammenhängen:
Eine erste Ursache ist in der historischen Doppelfunktion Mohammeds zu sehen. Mohammed präsentiert sich einerseits als der Gesandte Gottes, der den ihm offenbarten, unverfälschten und letztgültigen Willen Gottes verkündet. Als „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40) vollendet er die Reihe der prophetischen Gottesboten und erfährt wie seine Vorgänger neben Zustimmung auch massive Ablehnung bis zur Bedrohung seines Lebens. Mohammed ist aber seit seiner Übersiedlung nach Medina zugleich politischer Führer eines auf seine religiöse Botschaft verpflichteten, also theokratischen Gemeinwesens, das im Kampf mit dem feindlichen Mekka beginnt, sein theokratisches Herrschaftsmodell zu exportieren.
Die geschichtliche Entwicklung spiegelt sich auch in den Inhalten der von Mohammed als Offenbarung Gottes verkündeten Botschaft und findet nach seinem Tod ihren Niederschlag in deren schriftlicher Fixierung, dem Koran: Neben Sprüchen, welche die mangelnde Resonanz des prophetischen Wortes und den Unglauben der Adressaten beklagen (z.B. Sure 15,97; 18,94; 88,17), stehen solche, die zur Unduldsamkeit, ja zum Kampf gegen die Ungläubigen auffordern (9,14; 47,4 u.ö.) und selbst ihre Tötung im Krieg legitimieren (2,191).
Offensichtlich ist die inhaltliche Unausgeglichenheit der Aussagen mit ihrem unterschiedlichen situativen Kontext zu erklären. Ein der historisch-kritischen Bibelexegese vergleichbares geschichtliches Verständnis des Koran steht in der islamischen Theologie jedoch ebenso erst in den Anfängen wie eine kritische Auslegung aufgrund koran-immanenter theologischer Kriterien (vgl. Mouhanad KHORCHIDE). Die traditionelle islamische Offenbarungslehre stattet das Wort des Korans ohne Rücksicht auf seinen historischen Ort und seine menschliche Vermittlung mit der größtmöglichen inhaltlichen und formalen Autorität aus. Daher konnten sich Muslime, welche die Theokratie für das dem Islam angemessene Herrschaftsmodell halten, bislang mit demselben Recht auf den Koran berufen wie jene, die zwischen der Theonomie islamischen Existenzvollzugs und ihren politischen Rahmenbedingungen differenzieren wollen. Ob die frühislamische Theokratie ein Ideal darstellt und inwieweit sie Vorbildcharakter für die Gegenwart hat, ist ein unter islamischen Reformern seit dem 19. Jahrhundert viel diskutiertes Thema (Vgl. Peter HEINE, Terror in Allahs Namen ).
Die theologisch entscheidende Ursache der islamischen Ambivalenz gegenüber der Theokratie dürfte aber im Gottesbild des Koran zu suchen sein. Die kompromisslose Anerkennung des monotheistischen Grundaxioms ist Auslösungsgeschehen und zugleich der zentrale Inhalt der Prophetie Mohammeds: „Sag: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, durch und durch. Er hat weder gezeugt, noch ist er gezeugt worden. Und keiner ist ihm ebenbürtig.“ (Sure 112) Den Vorwurf, die Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes zu leugnen, erhebt Mohammed nicht nur gegen seine polytheistische arabische Umwelt, sondern ebenso gegen die Christen, die, obschon „Leute der Schrift“ und als solche mit dem göttlichen Offenbarungswort vertraut, Jesus als den „Sohn Gottes“ bekennen und sich damit der Sünde der „Beigesellung“ (arab.: shirk) schuldig machen (Sure 5,72 u.ö.).
Möglicherweise hat Mohammed das trinitarische Dogma mangels besseren Wissens tatsächlich im tritheistischen Sinn missverstanden, wie umgekehrt christliche Theologen den Islam, von dem sie nur bruchstückhafte Kenntnis besaßen, zunächst irrtümlich für eine neue christologische Häresie hielten (Ludwig HAGEMANN, Christentum contra Islam). Doch dieser Umstand ist nicht entscheidend; denn die christliche Trinitätslehre lässt sich auch bei sachlich korrektem Verständnis mit Mohammeds Gottesvorstellung nicht vereinbaren. Diese orientiert sich an der Idee des absoluten göttlichen Subjekts und setzt das Apathieaxiom der vor- und außerchristlichen Antike wieder in Kraft ((Sure 4,157f). Demgemäß betont der Koran neben der Allmacht und Freiheit Gottes gegenüber dem Menschen vor allem seine Unzugänglichkeit und Transzendenz, die auch durch die Offenbarung nur so weit aufgehoben wird, wie es der Menschheit zu ihrer „Rechtleitung“ nötig ist. Gott offenbart im prophetischen Wort nicht sich selbst, d.h. sein Wesen, sondern seinen Willen, der den Menschen in Gestalt der göttlichen Gebote zur Erfüllung aufgetragen ist. Für den Menschen wird Gott – außer als Schöpfer am Anfang und als Richter am Ende der Welt – vorrangig als Gesetzgeber erfahrbar, und die Erfüllung des Gotteswillens im Medium menschlichen Handelns ist der exklusive Modus der Beziehung des Menschen zu Gott.
Menschliches Handeln im Gehorsam gegen Gottes Gebot rückt damit unter den Anspruch, die Herrschaft Gottes in der Welt nicht nur per analogiam zu bezeugen, sondern in den sozialen Strukturen real abzubilden. Das Ziel der „Rechtleitung“ ist die im Glauben an den einen Gott durch eine seinem Willen entsprechende Lebensordnung geeinte Menschheit, und dieses Ziel ist innergeschichtlich und mit innerweltlichen Mitteln zu realisieren. Das gilt umso mehr, als der Islam auch die in der Alten Kirche ausgebildete Lehre von der Universalität der Sünde („Erbsünde“) ablehnt und den Menschen für prinzipiell befähigt hält, der „Rechtleitung“ durch das Offenbarungswort ohne ein vorausgehendes versöhnendes Handeln Gottes zu folgen. Die Anstrengung aller Kräfte (arab.: djihad) für den Glauben, in welcher sich Theonomie als Signatur der gesamten menschlichen Existenz verwirklicht, ist daher Pflicht aller Gläubigen in allen Bereichen des Lebens. Anders als die christliche Ethik differenziert der Islam dabei jedoch weder strukturell zwischen dem Reich Gottes und der „noch nicht erlösten Welt“ (Barmer Theologische Erklärung, 5. These) noch personal zwischen individueller Glaubenspraxis und politischem Handeln.
Entsprechend unterscheidet auch die islamische Version der „Zwei-Reiche-Lehre“ nicht zwei Regimente oder Regierweisen Gottes in Bezug auf die Welt, sondern zwei empirische, lokal definierte Bereiche, nämlich das „Gebiet des Islam“ (arab.: dar al-islam) und das „Gebiet des Krieges“ (arab.: dar al-harb), in dem der Prozess der Unterwerfung unter den Willen Gottes und der Aufrichtung islamischen Rechts noch nicht vollzogen ist, und geht dabei statt von einer escha-tologischen Dialektik beider von der sukzessiven Erweiterung des „Gebietes des Islam“ in das „Gebiet des Krieges“ durch missionarische und politische Aktivität aus.
Damit ist nicht notwendigerweise eine Option für die Theokratie als Gesellschafts- und Herrschaftsform verbunden und erst recht nicht über Zwangsmittel zu ihrer Durchsetzung entschieden. Allerdings liefert der Koran auch keine Argumente, welche die Theokratie – wie im Juden- und Christentum – mit zwingenden, in der Offenbarung Gottes selbst gesetzten Gründen aus dem Repertoire einer dem Glauben entsprechenden politischen Praxis ausschließen.
V. Konsequenzen für den christlich-islamischen Dialog
Inwieweit beeinflusst dieser Befund das christlich-islamische Verhältnis? Der Umstand, dass die Versuchung der Theokratie in allen monotheistischen Religionen virulent ist und Christen ihr genauso nachgegeben haben wie Muslime, verbietet einseitige Schuldzuweisungen. Dagegen könnte der Umgang mit dem theokratischen Potential des Monotheismus ein lohnendes Thema des christlich-islamischen Dialogs sein, sofern er in der Solidarität einer gemeinsamen Fragehaltung und Betroffenheit geführt wird und über seine Methoden und Ziele ausreichend Klarheit besteht.
Beide Voraussetzungen sind derzeit nur zum Teil erfüllt. Bislang verfolgt der Dialog zwischen Christen und Muslimen in Deutschland vorrangig strategische Ziele: Er ist dem Umstand geschuldet, dass beide Religionen nebeneinander in derselben Gesellschaft existieren und sich über die Erfordernisse ihres Zusammenlebens ins Benehmen setzen müssen (EKD: Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland.). Das geschieht auch in der Absicht, die gesellschaftliche Akzeptanz von Religionen zu erhöhen, Verdächtigungen zu entkräften, denen sie gegenwärtig ausgesetzt sind, und ihren politischen Einfluss zu sichern. Sofern in diesem Kontext inhaltliche Aspekte des Glaubens zur Sprache kommen müssen, wird von christlicher Seite gern das vermeintlich Verbindende wie das Bekenntnis zum Monotheismus oder die gemeinsame „abrahamitische“ Wurzel betont; Differenzen werden dagegen ausgeblendet, da ihre inhaltliche Vertiefung die strategische Zielsetzung gefährden könnte. Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit Gottes und der Versöhnung der Menschen durch Christus bleibt ausgespart; missionarische Absichten des Christentums gegenüber dem Islam werden z.T. ausdrücklich dementiert.
Stattdessen beschränkt man sich auf die „gemeinsame Beziehung zu dem einen Gott“ und seinen allumfassenden Heilswillen und bezweifelt zugleich, „dass Gott eine Beziehung zu Menschen aller anderen Religionen an ein ausdrückliches Bekenntnis zu Christus bindet“. Der bislang von Christen und Muslimen gleichermaßen erhobene Anspruch auf Exklusivität und Endgültigkeit ihrer jeweiligen Offenbarung soll einem pluralistischen Verständnis weichen, das sich als religiöse Toleranz präsentiert und Religionen faktisch auf ihren funktionalen Aspekt reduziert: Ihr „Wert“ bemisst sich an ihrem psychohygienischen Nutzen für das Individuum und an ihrem Beitrag zum Konfliktmanagement einer multikulturellen Gesellschaft.
Die darin wirksame Dialogstrategie ist allerdings keineswegs so tolerant, wie sie sich gibt. Sie ist im Gegenteil durchaus manipulativ, weil sie den islamischen Dialogpartner durch ihre zur Schau getragene konfessorische Zurückhaltung bewegen will, das utilitaristische Verständnis von Religion zu übernehmen. Dieses Kalkül ist jedoch kurzschlüssig, denn es übersieht, dass der Säkularismus westlicher Gesellschaften im Dialog mit dem Islam eher Teil des Problems als Teil seiner Lösung ist. Muslime nehmen Deutschland vielfach nicht als ein christliches, sondern als religiös indifferentes Land wahr. Dass diese Wahrnehmung neben Verunsicherung auch Überlegenheitsgefühle und missionarische Ambitionen weckt, verwundert nicht.
Der Islam wird darum an seinem Anspruch festhalten, im Koran über die letztgültige Offenbarung Gottes zu verfügen, die den für die gesamte Menschheit verbindlichen Willen Gottes enthält. Er wird sich als Sachwalter des reinen und strengen Monotheismus positionieren. Er wird seinen Vorwurf an die christliche Adresse erneuern, mit ihrer Trinitätslehre und Christologie das monotheistische Bekenntnis preisgegeben zu haben, und sie auffordern, von ihrem Irrtum Abstand zu nehmen. „Dialog und islamisch verstandene Mission“, so bemerkt Reinhart Hummel, „rücken nahe aneinander.“
Die christliche Seite kann diesem Anspruch nicht dadurch begegnen, dass sie alle Aussagen vermeidet, die von Muslimen als anstößig empfunden werden. Sie müsste in diesem Fall gerade die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens unterschlagen – und damit zugleich diejenigen, welche der theokratischen Gefahr im Christentum Einhalt gebieten. Sie wird im Gegenteil darauf beharren müssen, dass Trini-tätslehre und Christologie nach christlichem Verständnis weder Akzidenzien des monotheistischen Glaubens darstellen noch ihn gar durch ihr Hinzutreten gefährden, sondern gerade die notwendige Ausdrucksform des Monotheismus sind, weil sie ihn davor bewahren, zu einem abstrakten metaphysischen Prinzip zu werden.
Mit dieser Argumentation bliebe die christliche Theologie dialogfähig und solidarisch, denn sie mäße den Islam lediglich mit demselben Maßstab, den sie an sich selbst anzulegen hat – den Maßstab der theologischen Religionskritik. „Theologische Religionskritik“ bedeutet: Kritik der Religion mit den Mitteln der Theologie. Mit ihr unterscheidet christliche Theologie zwischen Offenbarung und Religion, weshalb evangelische Theologen des 20. Jahrhunderts wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer bestritten haben, dass der christliche Glaube überhaupt als Religion verstanden werden kann. Dagegen lässt sich zwar mit Recht einwenden, dass auch christlicher Glaube sich nicht anders als in „religiöser“ Form zu artikulieren vermag; dieser Tatbestand verleiht aber der Forderung, Religionskritik als einen obligatorischen Grundbezug theologischen Denkens zu etablieren, nur um so größeren Nachdruck. Denn die religiösen Ausdrucksformen des Glaubens einschließlich der von ihm benutzten Symbole sind einer Prüfung ihrer Offenbarungsgemäßheit zu unterziehen, um zu verhindern, dass sich menschliche Interessen der Ausdrucksformen des Religiösen bemächtigen.
Das gilt selbstverständlich auch für das monotheistische Gottesbild. Gerade die Vorstellung von Gott steht wegen ihrer zentralen Bedeutung für den Glauben in besonderer Gefahr, aus den Erfordernissen eines erkenntnisleitenden Interesses heraus gestaltet zu werden: Die Gottesidee des einen und einzigen „höchsten Wesens“ konstruiert auf den Erkenntniswegen der via negationis und via eminentiae einen Inbegriff von schlechterdings übermenschlicher Macht – mit dem paradoxen Resultat, dass dieses Allmachtsprinzip auch da, wo es personal gedacht wird, in der Welt außer durch das Medium menschlichen Handelns nicht zu geschichtlicher Wirkung kommen kann.
In diesem Zirkelschluss wurzelt die totalitäre Gefährdung monotheistischer Religionen und, als mögliche politische Konsequenz, die theokratische Gleichschaltung der Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens zur Konformität mit den aus der Gottesidee deduzierten Einheitsprinzipien. Psychologisch wird der theokratische Anspruch durch Projektionen motiviert, wie sie bereits die Religionskritik des 19. Jahrhunderts in aller Religion am Werk sah: Menschliche Größen- und Allmachtsphantasien schaffen sich ihr zum Übermaß vergrößertes Spiegelbild in einer metaphysischen Gottesidee, die ihrerseits wiederum Machtansprüche legitimiert und Geltungsbedürfnisse befriedigt, und wehren jede Kritik dieser Idee mit dem Gestus narzisstischer Kränkung ab.
Solche Mechanismen, welche die theologische Religionskritik als Selbstkritik christlicher Theologie zuerst in ihrem eigenen Kontext zu erkennen und zu überwinden sucht, sieht sie in analoger Weise im Islam wirksam. Das Gottesbild des Koran, das sich nach muslimischer Überzeugung der einzigen und ursprünglichen Offenbarung verdankt, zeigt unter religionskritischer Perspektive Indizien metaphysischer Abstraktion und, im Vergleich zur christlichen Lehre, theologischer Simplifizierung. In seiner Konzentration auf die Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes erinnert es in gewisser Weise an die auch aus dem Neuen Testament bekannte monotheistische Heidenpredigt (1.Thessa-lonicher 1,9 u.ö.), ohne die Möglichkeit der Selbstdifferenzierung des einen Gottes und seiner entsprechend differenzierten Selbstoffenbarung in Betracht zu ziehen, und lässt die göttliche Allmacht nach-gerade zur Regungslosigkeit erstarren.
Wenn die christliche Theologie im Reflex auf Gottes Selbstoffenbarung an dem Satz: „Gott war in Christus“ (2.Korinther 5,19) festhält und ihm in der Entfaltung ihres Bekenntnisses durch das trinitarische und das christologische Dogma gerecht zu werden versucht, so sind zwar auch diese Versuche nicht gegen ideologische Verzeichnung gefeit; sie halten aber insofern den plausibelsten religionskritischen Einwänden stand, als sie die Souveränität Gottes respektieren, sich in einer einzig seinem Ratschluss entsprungenen, menschlichem Wollen und Wünschen dagegen durchaus unwillkommenen Weise zu offenbaren. Denn die Menschwerdung Gottes ist für den metaphysischen Monotheismus ein Ärgernis und eine Torheit; und seine Mitmenschlichkeit, wie sie in dem Bild des stellvertretend leidenden und ohnmächtig sterbenden Jesus von Nazareth Gestalt gewinnt, bietet Machtphantasien keinen Anhaltspunkt, welcher eine Befriedigung ihrer Ansprüche verheißt.
In dieser Fehlanzeige drückt sich zugleich die Korrelation zwischen theologischer Theorie und theonomer Praxis aus: Dem christlichen Verständnis Gottes entspricht es, die Begrenzung und Vorläufigkeit menschlicher Handlungsmöglichkeiten zu akzeptieren, sich im gesellschaftlichen Handeln unter den Bedingungen der „noch nicht erlösten Welt“ mit einem gleichnishaften Zeugnis der allein von Gott zu erhoffenden Wirklichkeit zu begnügen, Scheitern und Leiden zu ertragen und sich gerade darin der Konformität mit dem Willen Gottes gewiss zu sein, der seine Allmacht in die Gestalt ihres Gegenteils verbirgt.
Was Horst-Eberhard Richter als Dilemma der autonomen, nachmetaphysischen Existenzbegründung beschrieben hat, gilt in analoger Weise auch für die theonome Existenz: „Wer nicht leiden will, muss hassen.“ Es könnte sich lohnen, im christlich-islamischen Dialog der Tragweite dieses Satzes nachzudenken. Der historische Erfahrungs-vorsprung, über den die christliche Seite hierin verfügt, vermag – sofern sie ihn solidarisch und in Erkenntnis ihres wiederholten Rückfalls hinter ihr Bekenntnis in das Gespräch einbringt – möglicherweise im Islam die Entwicklung einer politischen Ethik zu fördern, welche der theokratischen Option eine verbindliche Absage erteilt.
Manche Muslime sind dazu bereit; andere bezweifeln aus unter-schiedlichen Gründen, dass sich der Islam reformieren lässt. Der Ausgang der Diskussion ist offen. So begreiflich die Hoffnungen sein mögen, welche Politik und Kirchen in Deutschland in die Etablierung eines selbstkritischen, demokratie- und pluralismusfähigen „Euro-Islam“ setzen – sie berechtigen nicht dazu, den Dialogpartnern die Resultate des zu führenden Gesprächs vorab diktieren zu wollen. Es zeugt eher von Überheblichkeit als von Toleranz, Muslimen in Europa in kürzester Zeit einen Lernprozess abzufordern, für den christliche Kirchen Jahrhunderte gebraucht haben (und der, wie das Vordringen des christlichen Fundamentalismus zeigt, keineswegs abgeschlossen ist); ganz abgesehen von der Frage, ob die mit diesem Prozess verbundene Selbstsäkularisierung der Religion Angehörigen anderer Religionen überhaupt wünschenswert erscheinen kann.
Von Mahatma Gandhi ist der Satz überliefert, er bete „für einen Christen, dass er ein besserer Christ, für einen Moslem, dass er ein besserer Moslem werden möge“( Werner TRUTWIN, Licht vom Licht ). Interreligiöse Gespräche sind immer auch Anlässe, den eigenen Glauben tiefer zu durchdenken, verbindlicher zu bezeugen und konsequenter zu praktizieren. Im Dialog mit dem Islam könnte das für das Christentum bedeuten, den theonomen Anspruch der eigenen Religion wieder ernster zu nehmen, anstatt sie als Verfügungsmasse strategischer Interessen zu funktionalisieren. Mehr Bescheidenheit, mehr Demut und mehr Treue zur christlichen Identität sind angezeigt. Das wird Atheisten nicht von der Wahrheit des Glaubens überzeugen und Extremisten nicht von der Verübung weiterer Gewalttaten abhalten. Es könnte aber zur Emanzipation der Religion aus der Inanspruchnahme für ihr fremde Zwecke beitragen und damit zu einer echten Freiheit des Glaubens führen.