Dr. Kuno Füssel

Diese Wirtschaft tötet

Warum Papst Franziskus und Karl Marx so einig sind in ihrer Kapitalismuskritik

Matinee vom 09.02.2020

 

Kuno Füssel, Jg. 1941, ist Mathematiker und pro­movierter Theologe; er war langjähriger Mitarbeiter von Karl Rahner und Johann B. Metz. Zahlreiche Veröffentli­chungen zu den Bereichen Bibel und Ökonomie, zur wissenschafts­theoretischen Grundlegung der Theologie so­wie zum Ver­hältnis von Christen­tum und Marxismus lie­gen von ihm vor. Von 1998 bis 2007 war er Lehrer für Ma­thematik, Physik und Kath. Religion an einer Berufsbil­denden Schu­le.

Papst Franziskus will eine bescheidene, aber auch prophetische Kirche, die den Opfern eine Stimme gibt. Im Zentrum ihrer Verkündigung steht die Anklage der „Strukturen der Sünde“, die die Opfer produzieren, für deren Befreiung und Menschenwürde gekämpft werden muss. Im apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ vom November 2013 lautet der provozierendste Satz: „Diese Wirtschaft tötet!“ Deutlicher kann eine Kritik an der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht ausfallen. Theoretisches Zentrum seiner Kapitalismuskritik ist die Fetischismusanalyse von Karl Marx. Seine radikale Linie hat der Papst in der Umweltenzyklika „Lau­dato si“ vom Mai 2015 durch die Verknüpfung der Ökonomie mit der ökologischen Problematik noch einmal erweitert und vertieft.

Franziskus ruft alle Menschen guten Willens dazu auf, unser gemeinsames Lebens-Haus zu schützen statt es zu zerstören. Seine eindringli­chen Mahnungen haben seitdem ständig an Ak­tualität gewonnen.

 

Ein Bericht von Norbert Bogerts

In ihrer Einführung in die heutige Matinee zeigt Claudia Nelgen auf, dass es immer Brüche in der Geschichte der Menschheit gab, sei es zu Zeiten Karls des Großen oder Luthers gewesen, oder in der französischen Revolution, und auch mit dem Zweiten Weltkrieg. Auch heute leben wir in Umbruchzeiten, sie sind aber anders: Die ausgebeutete Natur kommt an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, zukünftiges Leben ist bedroht; Krankheiten und Hunger kennzeichnen besonders ärmere Länder, es mangelt an sauberem Wasser usw. Auch bei uns liegt Vieles im Argen, u.a. gibt es prekäre Arbeitsverhältnisse und Wohnungsnot. Nationalistisches Denken breitet sich aus und erhöht die Kriegsgefahr.

Wie konnte es soweit kommen? Das Strickmuster des Gewinnstrebens, der Kapitalismus, ist mitverantwortlich. Papst Franziskus fasste dies in dem Satz zusammen „Diese Wirtschaft tötet!“

Anschließend stellte Nellen (?) Kuno Füssel vor. Er studierte Theologie, promovierte bei Karl Rahner und Johann Baptist Metz, hatte Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Inhaltliche Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche führten dazu, dass ihm als Unterstützer der Befreiungstheologie eine innerkirchliche Karriere verwehrt blieb. Die letzten zehn Jahre seines Berufslebens war er Lehrer für Mathematik, Physik und Religion an der Berufsbildenden Schule in Koblenz.

Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Füssel:

Am 13. März 2013 wurde der Argentinier José Bergoglio zum Papst gewählt. Als erster Papst benannte er sich nach Franziskus von Assisi und knüpfte so an die kirchenhistorische und biblische Tradition der Armutskritik an. Als Nachfolger zweier Päpste, deren Amtszeiten neben ihrem traditionellen Kirchenverständnis vor allem von ihrem Antikommunismus und ihrem Kampf gegen die Befreiungstheologie bestimmt waren, ersetzte er den Ideologieverdacht gegen die Befreiungstheologie mit dem Ideologieverdacht gegen Kapitalismus und Klerikalismus. So zeigt er sich den Menschen und nicht dem Machtanspruch der Herrschenden in der Kirche verpflichtet.

Ein durchgängiges Motiv in den Reden von Papst Franziskus ist seine Götzen- und Fetischkritik. So sieht er z. B. die Ursache der Finanzkrise in unserer Akzeptanz eines Geld-Imperiums und seiner Macht über unsere Gesellschaften. Ihre Hauptursache liege in einer tiefen anthropologischen Krise. Man verweigere dem Menschen das Primat. Wir hätten neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des Goldenen Kalbes im Alten Testament habe ein neues, herzloses Bild im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur der Wirtschaft ohne menschliches Antlitz gefunden. Franziskus benennt auch die Götzen des Profits und des Konsums, die sich in der Vergeudung von Lebensmitteln und der Wegwerfkultur manifestieren und selbst vor Menschenopfern nicht Halt machen. Er spricht sogar von einer „Götzendienst-Wirtschaft“. Aktuelle regionale Kriege sieht er durch diese Wirtschaftsweise bedingt:

„Im Zentrum jedes Wirtschaftssystems muss der Mensch stehen… und alles Übrige hat den Menschen zu dienen. … Aber wir haben das Geld ins Zentrum gerückt, das Geld zu Gott gemacht. … Die Wirtschaft wird nur vom Bestreben in Gang gehalten, immer mehr zu haben … Aber weil man keinen Dritten Weltkrieg führen kann, führt man eben regionale Kriege. … Dadurch wird offenbar die Bilanz der Götzendienst-Wirtschaft saniert, so sanieren sich die wichtigsten Wirtschaftsblöcke der Welt, die dem Götzen Geld den Menschen als ein Opfer vor die Füße legen.“ (Franziskus-Interview vom 19.6.2014)

In seinem Lehrschreiben Evangelii Gaudium (10/2013), aus dem das Zitat „Diese Wirtschaft tötet!“ stammt, bringt er sein Nein zur Geldvergötterung zum Ausdruck, sein Nein zur Wirtschaft, die Schwache ausschließt, sein Nein zur Gewalt produzierenden sozialen Ungleichheit.

Diese Gedanken sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern schon vor 40 Jahren von dem befreiungstheologischen Thinktank DEI (Departamento Ecumenico de Investigaciónes) in Costa Rica formuliert worden.

Die Macht der Götzen ist befreiungstheologisch gesehen keine Fiktion. Wer Geld hat, ist ökonomisch und politisch mächtig. Wer diesen Götzen „verehrt“ ist Teil dessen „Diktatur … ohne menschliches Antlitz“ (Franziskus 2013), selbst wenn er zum Opfer dieses Götzendienstes wird. Dagegen müssten wir kämpfen, denn unmittelbare Folgen sind Flucht und Migration, Umweltzerstörung, Krieg, Landgrabbing, Hunger, Arbeits- und Wohnungslosigkeit. Als Grund der gegenwärtigen Verhältnisse nennt Franziskus eine tiefe anthropologische Krise, die in der Leugnung des Vorrangs des Menschen vor allem anderen zu suchen ist. Sie ist also kein Schicksal, der Götze ist vom Menschen angefertigt, was bedeutet, dass seine Macht nicht unumstößlich, nicht gottgegeben ist.

Der Kampf gegen die Götzen wird biblisch und befreiungstheologisch nicht dadurch geführt, dass die Götzen direkt angegriffen werden, vielmehr geht es darum, den Ursprung ihrer Macht und die sich aus ihr ergebenden Folgen und Wirkungen offen zu legen. Die Menschen dürfen nicht auf ein einziges Bedürfnis, den Konsum, reduziert werden, so dass kein Platz mehr bleibt für Solidarität als umfassendes Umdenken des gesamten Systems.

Der Kampf gegen den Götzendienst muss ein Kampf um Aufklärung sein, damit der Mensch erkennt, wem er dient, wem er auf den Leim gegangen ist.

Wie Götzen unser Bewusstsein besetzen, zeigt die Fetischismustheorie von Karl Marx: In der privatkapitalistischen Produktionsweise zeigt sich der entfremdende Charakter der menschlichen Arbeit als Entfremdung von Mensch und Produkt, als Entfremdung von Mensch und Produktion und als gesellschaftliche Entfremdung von Mensch und Gattung. Wird der Arbeiter gezwungen, seine Arbeitskraft und seine Arbeitszeit zur Mehrung des Gewinns der Kapitaleigner zu verkaufen, kann er weder über seine Arbeit verfügen, noch ihre Produkte sich aneignen. Nimmt der Lohnarbeiter seine Arbeit als Spiegel des eigenen Wesens, so sieht er im Spiegel in allen Stücken die Verfehlung seines Wesens, seine Unterwerfung, d. h. er produziert auf verschiedenen Ebenen seine eigene Entfremdung. Durch die vom Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Arbeitsteilung bedingte entfremdete Arbeit wird die Entfremdung zur Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse. Soll der Mensch wieder zu sich selber kommen (wieder Mensch werden), bedeutet dies die endgültige Überwindung und Beseitigung des Kapitalismus auf allen Ebenen, der Ökonomie, der Politik, der Kultur. Mit seiner Entfremdungstheorie hat Marx sehr früh den Fetischcharakter der kapitalistischen Ökonomie analysiert und offengelegt, ohne den Begriff Fetisch zu verwenden, den er später in „Das Kapital“ Bd. I entwickelt.

Es geht beim Fetischismus um zumindest drei entscheidende Momente:

1. Die Vertauschung zwischen Personen und Sachen und ihre Eigenschaften.

2. Die Verschleierung dieser Vertauschung und ihre Widerspiegelung im Bewusstsein.

3. Die Herstellung der Illusion, die Form der Beziehungen zwischen den Waren als von den Beziehungen zwischen den Produzenten unabhängig erscheinen zu lassen, wobei ihre scheinbare „Naturwüchsigkeit“ aber zusätzlich den Charakter herrschaftsförmiger Sachzwänge gewinnt und damit jede politische Gegenwehr im Keim zu ersticken droht.

Füssel vergleicht die Situation der Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert mit der aktuellen Situation der Bauern und ihren Protesten. Die Bauern sind ohnmächtig, sie sind in der Situation des Fetischismus: Sie sind in die Gesamtgesellschaft über den Preis integriert, der den ganzen Konflikt beherrscht. Ein höherer Preis für ihre Produkte nutzt ihnen nichts, vielmehr muss das ganze System weg.

Auch bei dem digitalen Hauptprojekt der Künstlichen Intelligenz (KI) ist der Fetischismus erkennbar am Werk: Die Tendenz ist greifbar, dass Computer den Menschen einholen und überholen sollen, also boshaft gesagt, dass die Computer zu besseren Menschen werden. Stattdessen aber besteht die Gefahr, dass die Menschen als minder schlaue Computer eingestuft werden. Bei diesen Aussagen soll der Computer als eine Metapher für das ganze System genommen werden. Die höchste Stufe des modernen Kapitalismus ist der digitalisierte Kapitalismus. Er ist nichts anderes als ein genialer Selbstrettungsversuch des Kapitalismus. Die Algorithmen sind das wichtigste Instrument und zugleich die unangetasteten Götter des digitalen Kapitalismus. Scheinbar können sie alles, wissen alles Notwendige und daher sind ihre Entscheidungen ohne Widerrede zu akzeptieren. Doch auch sie sind nur Produkte menschlicher Gehirne, auch wenn auf dem Gebiet der KI schon Phantasien kursieren, dass es einmal Algorithmen geben wird, die selber wieder noch potentere Algorithmen generieren. Es ist abzuwarten, wie realistisch dies ist. Doch bereits jetzt scheuen sich die Vertreter dieser Strömung nicht zurück, durch Hinweise wie den, dass der Algorithmus „Mensch“ nur mickrige 12147 Zeichen umfasse, der Verachtung des Menschen Vorschub zu leisten.

So bekommt auch der Fetischismus seine digitale Gestalt.

Dem Kapitalismus darf man, auch gerade wegen dieser Bedrohung, nicht den Charakter einer Naturgesetzlichkeit andichten, was Margret Thatcher gemacht hat, als sie sagte: „There is no alternative“ (= TINA). Das ist gläubige Anbetung der Allmacht des angeblich freien Marktes.

Es gibt Alternativen. Nicht nur aus historischen Gründen liegt der Sozialismus als Systemalternative nahe. Ohne auf die Diskussion darüber, was Sozialismus eigentlich ist, einzugehen, hier der Versuch einer Teil-Definition: Nach den vorangegangenen Überlegungen wäre er eine Befreiung aus der Sklaverei des Fetischismus. Er wäre eine Gesellschaftsformation und insbesondere eine Lebensweise, in der die Menschen von der Herrschaft des Waren- und Kapitalfetischs befreit sind und dadurch in die Lage versetzt werden, einen „Verein freier Menschen“ zu bilden.

In der Fetischismusanalyse gibt es eine hohe Übereinstimmung zwischen Karl Marx und Papst Franziskus. Dieser verlangt, dass die christlichen Gemeinden sich nicht dem Fetischismus ergeben dürfen, denn „diese Wirtschaft tötet“. Wir müssen Jesu Weg gehen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit glaubhaft bezeugen. Priorität in der kirchlichen Gemeinschaft hat die Nachfolge Jesu, sicher nicht die wohl notwendigen Strukturreformen. Franziskus ermuntert uns dazu. Mit dem Wunsch „Möge er noch lange gesund bleiben“ schließt Füssel seinen Vortrag.

Einige Gedanken aus der sich anschließenden Gesprächsrunde:

Auf die Frage, ob es nicht ansatzweise einen Staat gebe, der diese Gedanken realisiere, verweist Füssel trotz vieler zu bedenkender Einschränkungen auf Kuba. Alle Staaten seien Herrschaftsinstrumente, in denen es um die Sicherung der Privilegien der herrschenden Klassen gehe. Aber es gebe auch Regionen (also Länder, nicht Staaten), in denen entsprechende Alternativen erprobt würden, wie es z. B. in den kirchlichen Basisgemeinschaften Lateinamerikas oder den Sebstbestimmungsprojekten der Indigenen geschieht. Die beiden vorletzten Päpste seien für den Rückgang der Basisgemeinden verantwortlich. Aber vor Ort können wir trotzdem noch viel verändern. Wir, nicht die Leitung, sind die Kirche, das sollten wir auch praktisch im Alltag darstellen. Zu verweisen sei auch auf alternative ökonomische Projekte, wie z.B. die Entwicklung einer Gemeinwohlökonomie, die es auch in Trier gibt. Ähnliches gilt auch für die etablierten Parteien, wobei es nicht übertrieben ist zu sagen, dass auch die SPD, die Linke und die Grünen weit vom Reich Gottes entfernt seien , aber nicht so weit wie CDU und FDP.

Auf die Frage, ob die Strukturreform im Bistum Trier ein Rückschritt sei, sagt Füssel, da sei auch Positives drin, aber bereits der Begriff XXL-Pfarreien zeige, dass man in der Begriffswahl schon unbewusst dem Fetischismus in die Falle getappt sei. Die Reform verunmögliche vielen, an einem Sonntagsgottesdienst teilzuhaben. Der Zölibat sei wohl wichtiger als das Recht der Gläubigen auf die sonntägliche Eucharistiefeier.

 

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Zur „Wundertätigkeit“ des Kapitals betont Füssel, dass das Kapital erst durch menschliche Arbeit entsteht, räumt aber ein, dass es auch sinnvolle Investitionen gibt. Aber wo das Kapital blühe, sterbe die Kultur.

Im Urchristentum herrschte Urkommunismus. Erst durch die Konstantinische Wende entstand die Reichskirche, die Christenheit wurde imperialisiert, statt das Imperium zu christianisieren.