Gisela Mayer M. A
Gisela Mayer studierte Philosophie und Psychologie und war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten in München und Bayreuth. Seit 2004 übernimmt sie Lehrtätigkeiten in der Erwachsenenbildung, an Schulen und Krankenhäusern. 2009 war sie Gründungsmitglied des Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden - Stiftung gegen Gewalt an Schulen. Ihre Tochter war als Referendarin eines der Opfer des Amokläufers von Winnenden.
Die Referentin schreibt:
Schuldig geworden ist der 17-jährige Junge, als er am 11. März 2009 in Winnenden seine ehemalige Schule betrat und begann auf Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer zu schießen. Schließlich hatte er 15 Menschen ermordet und sich selbst das Leben genommen.
War die Schuld zu groß für ihn? War der Selbstmord Teil seines Plans? Eine endgültige Antwort wird es nicht geben. Endgültig ist nur die Tatsache, dass sich eine menschliche Katastrophe abgespielt hat, deren Ursache noch zu großen Teilen im Dunkeln liegt.
Offen allerdings ist auch, was aus dieser Katastrophe entsteht. Nicht die Wirklichkeit, nicht das Ereignis, das geschehen ist, kann verändert werden - wohl aber sein Sinn- und Wertgehalt im Hinblick auf unseren Lebenszusammenhang. Inwieweit Verzeihung nicht der sinnlose Versuch ist, Vergangenes ungeschehen zu machen, sondern „im Hinbeugen auf ein Stück Vergangenheit unseres Lebens diesem einen neuen Sinn aufzuprägen vermag“ (Max Scheler) und damit der eigentliche Hinweis auf menschliche Freiheit ist, soll Gegenstand dieser Matinee sein..
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Sie ist von dem Geschehen am 11.03.2009, als ein 17-Jähriger in seiner Schule in Winnenden 15 Menschen erschoss, doppelt betroffen: als Philosophin und Psychologin (die auch Theologie studiert hat) und als Mutter einer Tochter, die bei dem Amoklauf als Referendarin erschossen wurde.
Kann man verstehen, was da geschehen ist? Warum wird jemand so gewalttätig?
Vor ca. 2500 Jahren hat der griechische Philosoph Aristoteles gesagt: Der Mensch ist ein gemeinschaftsbildendes Wesen. Er kommt erst in seinem Gegenüber zu sich selbst. Diese Einsicht wird von der heutigen Wissenschaft bestätigt. So sagt der Gehirnforscher Joachim Bauer 2008: Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden oder zu geben. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die langfristige Verletzung des Gefühls sozialer Akzeptanz zum Zusammenbruch von Motivation und Lebensfreude führen kann.
Aber erklärt uns das schon dieses Übermaß an Aggression?
Der sicherste Auslöser von Aggression ist willkürlich zugefügter Schmerz, wobei nicht zwischen körperlichem und seelischem Schmerz (Ausgrenzung, Demütigung) unterschieden wird. Empfundene Ungerechtigkeit verstärkt dies noch. Wird aber über längere Zeit verhindert, dass diese Aggression sich gegen den Verursacher des Schmerzes, der Demütigung richtet, sucht sie sich ein anderes Ziel. Die Aggression wird willkürlich und scheinbar sinnlos. Das Opfer wird zum Täter.
Man kann also sagen, dass die Entstehung von Gewalt, auch scheinbar sinnloser Gewalt, im Kern auf die Suche nach Gemeinschaft zurückgeht.
Der Königsweg aus diesem Dilemma ist die Wiederherstellung der Gemeinschaft, der Beziehung zu sich selbst und zum Andern. Diese Wiederherstellung geschieht durch Vergebung.
Beziehung zu sich selbst und zum Andern setzt voraus, dass der Mensch in seinen ersten Lebensjahren, wenn er beginnt, zwischen sich und anderen Personen zu unterscheiden, zugleich lernt, in den anderen Personen Menschen zu erkennen, die so sind wie er und doch auch wieder anders. Ist uns diese Empathie nicht angeboren? Ja, aber nur als Fähigkeit. Sie muss entwickelt werden - ähnlich wie die Fähigkeit zur Sprache. Dazu brauchen wir das Gegenüber. Am Gegenüber lernen wir, unsere eigenen und dann auch die Gefühle anderer wahrzunehmen. Empathie kann die entscheidende Hemmschwelle vor dem Bösen sein.
In der Vergebung verschwindet der Wunsch nach Vergeltung und nach Schuldzuweisung. Empirische Untersuchungen über die Wirkung von Vergebung, der Wiederherstellung der Beziehung zu sich selbst und zum Andern, sind durchweg positiv, und zwar wie für den Täter, dem vergeben wird, genauso auch für das Opfer, das vergibt, bis dahin, dass sogar körperliche Symptome nachlassen oder besser werden.
Sollten wir uns dann nicht vornehmen zu vergeben, und alles würde besser? Wenn das so einfach wäre! Vergebung ist ein steiler und schwieriger Weg, und er ist nicht klar gekennzeichnet; da steht nicht überall ein Hinweis, welches der richtige Weg ist.
Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene zu vergessen, bedeutet nicht, die Verantwortung des Täters zu relativieren, ihn zu begnadigen oder zu rechtfertigen. Vergebung entspricht dem Wesen des Menschen, weil wir Beziehungswesen sind. Wir leben und sind aus der Beziehung. Wenn es heißt: „Am Anfang war das Wort.“ heißt das auch „Beziehung“, denn ein Wort wäre nur ein Geräusch, wenn es nicht an jemanden gerichtet wäre.
Der Weg der Vergebung fängt damit an, dass ich meine Geschichte einem Menschen erzähle, dem ich vertraue, zu dem mein Herz spricht: Kannst du deine Fragen, Ratschläge und Wertungen im Zaum halten? Kannst du mit mir auf die Wahrheit warten, die sich hinter meiner Traurigkeit, meiner Angst verbirgt? Kannst du einen Raum für mich schaffen, in dem ich meine Geschichte erzählen kann?
Ein weiterer Schritt auf dem Weg der Vergebung ist, die Verletzung beim Namen zu nennen. Wut, Scham, Schmerz, Angst und Trauer können ausgesprochen werden. Hinter alledem kommt der Punkt, wo ich mich entscheide, dem anderen seine Menschlichkeit nicht abzusprechen, sondern mich seiner Geschichte zu stellen und unsere gemeinsame Menschlichkeit anzuerkennen: d.h. Vergebung zu praktizieren. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Aber wir können etwas Neues in die verbrannte Erde pflanzen. Dabei kann ich unsere Beziehung erneuern oder beenden, was beides völlig in Ordnung ist. Du bist ein Mensch, der mich verletzt hat. Wenn ich dir vergebe, wirst du mich nicht länger definieren. Du hast mich eingeschätzt, beurteilt und entschieden, mir Schmerz zuzufügen. Meine Vergebung ist kein Geschenk von mir an dich. Wenn ich dir vergebe, wird meine Vergebung zum Geschenk für mich.